Direkt nach meinem Abitur habe ich zum Wintersemester 2005/06 an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit dem Ökotrophologiestudium begonnen. Im Nachhinein vielleicht ein Fehler; wenn ich andere von ihren Freiwilligendiensten berichten höre, bedaure ich etwas, nicht auch erst mal ein Jahr ins Ausland gegangen zu sein. Am Studium selber liegt das Bedauern jedoch nicht. Ich mochte mein Fach von Anfang an, was vermutlich vor allem an seiner Vielseitigkeit liegt. „Ökotrophologie“ bedeutet „Haushalts- und Ernährungswissenschaften“, und so ging es im ersten Semester mit Mathe und Statistik, BWL und VWL, Chemie, Biologie und Soziologie sowie einer Einführung in die Haushaltswissenschaften los. Die Pflichtfächer in den folgenden Semestern behandelten Politik, BWL und VWL in Bezug auf die Agrar- und Ernährungswirtschaft, tierische und pflanzliche Lebensmittel, Anatomie und Physiologie sowie ernährungswissenschaftliche Grundlagen.
Ökotrophologie ist also ein sehr vielseitiges Fach, in dem man lernt, auf die unterschiedlichste Art und Weise zu denken. Allerdings muss man dabei auch aushalten können, dass man eher einen groben Überblick vermittelt bekommt als feinstes Detailwissen ansammelt. Daran ändern auch die vielen (über 100) Wahlfächer, aus denen man in Gießen wählen kann, nicht wirklich etwas. Man kann sich natürlich auf ein Fachgebiet spezialisieren (d.h. Ernährungswissenschaften, Ernährungsökonomie, Haushaltswissenschaften), aber ich habe immer das Gefühl, dass man, wenn man z. B. BWL, Ernährungswissenschaften oder Soziologie in Reinform studieren würde, einen genaueren Einblick bekommen würde. Wer sich ausschließlich für Ernährung interessiert, ist daher mit dem Studiengang Ernährungswissenschaften möglicherweise besser bedient. Hier ist aber zu bedenken, dass die Ausrichtung der Ernährungswissenschaften in Gießen weniger labororientiert ist als anderswo. Es empfiehlt sich daher grundsätzlich, vor der Auswahl einer Uni in die Musterstundenpläne zu schauen, die oft auf den Unihomepages angeboten werden.
Am Bachelorstudiengang in Gießen ist positiv hervorzuheben, dass eines der häufigsten Argumente, die oft gegen den Bachelor vorgebracht werden, hier nicht gilt: Das Studium ist hier längst nicht so verschult wie anderswo. Knapp die Hälfte der Veranstaltungen kann man frei aus dem Wahlfachkatalog wählen, und es gibt meist keine Anwesenheitspflicht.
Als negativ habe ich im Bachelor die Anonymität der Veranstaltungen empfunden. Oft nehmen 50 bis mehrere hundert Studenten an einer Veranstaltung teil, und es ist schwierig, Kontakt zu den Lehrenden zu bekommen. Abhilfe schafft hier die Begrenzung der Teilnehmerzahlen, was aber wiederum dazu führt, dass man nicht immer einen Platz in der gewünschten Veranstaltung bekommt.
Nach dem Bachelor kann man in Gießen einen Master in den Fachrichtungen Ernährungswissenschaften, Ernährungsökonomie und Haushalts- und Dienstleistungswissenschaften anschließen. Die Masterstudiengänge sind allerdings teilweise mit einem NC (wie übrigens auch die Bachelorstudiengänge; die NCs der vorhergehenden Jahre können auf der Uni-Homepage eingesehen werden) versehen, und es gibt bundesweit noch andere interessante Optionen für Ökotrophologie-Bachelors. Der Masterstudiengang Ernährungswissenschaften ist eher naturwissenschaftlich orientiert. Die Ernährungsökonomie ist im Wesentlichen ein BWL- und VWL-Studium, das sich spezifisch am Ernährungs- und Agrarbereich orientiert, und die Haushalts- und Dienstleistungswissenschaften beschäftigen sich mit Klein- (d.h. Familien) und Großhaushalten wie Altenheimen oder Schulmensen, aber auch mit Sozialpolitik und Verbraucherverhalten.
Wie interessant gerade die Haushaltswissenschaften sind, ist mir erst im Verlauf des Ökotrophologiebachelors klar geworden; ursprünglich war ich vor allem an Ernährung interessiert, habe dann aber die Haushaltswissenschaften als Fachrichtung für den Master gewählt. In unseren Veranstaltungen geht es z. B. um folgende Fragen: Wie verwenden Familien ihr Geld und ihre Zeit, und warum tun sie das auf diese Weise? Wie kann Verbraucherschutz aussehen? Wie können Pflegeheime wohnlicher gemacht werden? Wie kann Nachhaltigkeit im Alltag aussehen? Was sind die betriebswirtschaftlichen Grundlagen der Uni-Mensa? Kann eigentlich Kinderbetreuung auch ohne staatliche Regulierung nur vom Markt organisiert werden?
Zum Studium in Gießen allgemein ist zu sagen, dass es keinen Campus gibt. Je nach Studiengang ist man in der gesamten Stadt unterwegs, was sich aber mit einem Fahrrad gut bewerkstelligen lässt. Alternativ fährt man kostenlos Bus, das Gießener Semesterticket gilt für ganz Hessen.
Wohnen kann man entweder im Wohnheim oder irgendwie privat. Informationen zu den Wohnheimen gibt es auf der Homepage des Studentenwerks Gießen, Zimmer findet man durch Aushänge oder z. B. auf www.marburg-verlag.de/okaz.